In den letzten Wochen ging und geht in Deutschland in der öffentlichen Meinung die Frage um: Können die Piraten Wirtschaft? Dem ist entgegenzusetzen: Abwarten! Und: Wer kann denn Wirtschaft? Folgt man dem Psychologen und Nobelpreisträger Daniel Kahnemann, sind es jedenfalls nicht die Börsenjongleure und Analysten der Finanzwelt, die Wirtschaft können [1], obwohl man das gerade bei ihnen doch voraussetzen würde. Das ihr Handeln nicht dem Nutzen der Allgemeinheit dient, bedarf wohl keiner ernsthaften Diskussion. Aus volkswirtschaftlicher Sicht lässt man sie mit dem Hintergedanken gewähren, dass sie bei der Verfolgung privatwirtschaftlicher Ziele Werte schaffen, die letztlich der Allgemeinheit zugute kommen. Und jetzt:
[Frage]: All die aufwendigen Analysen und Berechnungen der Experten bringen überhaupt nichts? Nicht mehr, als wenn man einfach auf den Dax wettet?
[Kahnemann]: Die Experten sind sogar schlechter als der Index, weil sie Geld kosten. [2]
Wer hätte das gedacht? Na, gut! Der Finanzsektor mit seiner ihm eigenen Dynamik und Hybris ist zugegebenermaßen ein ganz besonderer Zweig der Wirtschaftswelt. In der realen Wirtschaft, bei der Schaffung fassbarer Produkte oder Dienstleistungen, sieht alles anders aus. Oder? Gerade geistert die Schlecker-Pleite durch die Medien. Man fragt sich: Wieso wurde einem alternden Firmenpatriach mit seiner rigiden Finanz- und Personalpolitik nicht Einhalt geboten, bevor der den Karren vor die Wand fuhr? Wo waren da die Kontrollmechanismen? Tausende stehen nun auf der Straße und trauern einem Arbeitsplatz nach, dessen Bedingungen so schlecht waren, dass sie ihn eigentlich verachten sollten. Hilfe aus der Politik? Fehlanzeige! Gerade jene unserer Volksvertreter, die sich sonst für die Belange der Wirtschaft stark machen, sprachen sich nun gegen eine Transfergesellschaft aus. Und damit gegen ein Auffangbecken für die vielen Frauen und Männer aus dem einfachen Volk, die durch die Schlecker-Insolvenz ihre Arbeit verloren. Hier zeigt sich exemplarisch, wie schnell sich heutzutage existenzielle Bedrohungen auch in der Realwirtschaft entwickeln können. Und wie wenig Rückhalt man aus der Politik bekommt.
Die Liste der Hiobsbotschaften, welche die Bevölkerung beunruhigen, ließe sich beliebig erweitern: Wird Opel in Deutschland ein Werk schließen, um im Ausland billiger zu produzieren? Ist auch mein Arbeitsplatz von ähnlichen Entwicklungen bedroht? Werden deutsche Steuerzahler, also auch ich, zur Kasse gebeten, wenn Deutschland Milliarden für den Eurobonds aufbringen muss? Werden die Energieriesen den Umbau zur atomfreien Energie hinauszögern, um ihr Gut künstlich zu verknappen und zu verteuern? Verliert meine Immobilie durch neue Energieverordnungen an Wert? Muss ich den Straßenbau vor meiner Haustür mit tausenden von Euros cofinanzieren, obwohl es doch eigentlich die hoheitliche Aufgabe des Staates wäre, das Straßen- und Verkehrsnetz zu pflegen?
Fragen wie diese schüren den Unmut in der Bevölkerung. Sie zeigen: Der einfache Mann fühlt sich von gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen entkoppelt und überrollt. Und jene Giganten aus Wirtschaft oder Politik, denen er vertraute oder von denen er hoffte, sie würden diese Bedrohungen von ihm abwenden, haben nur allzu oft versagt.
Kein Wunder also, dass die Sehnsucht groß ist nach einer neuen Kraft, nach einer neuen Institution, die seine Belange besser vertritt.
Und plötzlich tauchen am politischen Horizont die Piraten auf. Eine Partei, die sich über das neue Medium Internet wie ein Flächenbrand verbreitet hat und von der bekannt ist, dass sie Mitreden und Mitbestimmung groß schreibt. Die die Strukturen in ihrer eigenen Organisation flach hält und mit ihrem Elan bereits viele mitgerissen hat, die nicht zur ihrer ursprünglichen, internet-affinen Hacker- und Programmiererszene gehören. Zu deren Foren und Gremien man Zugang über das Internet erhält, wodurch sie für gut 75% aller Deutschen jederzeit erreichbar sind.
Auf die Frage, ob die Piraten sich etablieren können und wollen und zum Vehikel wirtschaftspolitischer Wünsche ihrer Wähler werden, bieten die aufgezeigten Entwicklungslinien einen Hinweis. Wenn die Partei es langfristig schafft, sich den Zugang zu ihrer größten Ressource, dem kollektiven Wissen und Gedächtnis ihrer Anhänger, zu erhalten und diese Ressource beständig zu erweitern, ist das der erste Schritt. Wenn sie es darüber hinaus schafft, dieses Wissen zu filtern und in geordnete Bahnen zu lenken, ist das der zweite Schritt. Schließlich bedarf es einer Gruppe von Repräsentanten, die sich vor diesem Hintergrund als das verstehen, was sie wirklich sind: Nämlich Sprachrohre und Vollstrecker der Ideen und Meinungen, die sich aus der Masse des Parteivolkes herauskristallisiert haben.
Bei einer neuen Partei wie den Piraten dauert es naturgemäß einige Zeit, bis diese Prozesse durchlaufen sind. Das war schon in den Achtzigern bei den Grünen so, und das wird auch bei der Einrichtung jeder neuen Institution immer so bleiben. Manifestation oder auch Konsolidierung nennt man das, und je nachdem, wie groß die Basis dazu ist, geht das unterschiedlich schnell vonstatten.
Aber wenn die Partei diese Phasen durchlaufen hat, hat sie das Potenzial, auf weitaus mehr Wissen zurückgreifen zu können, wie die sogenannten Expertenrunden der etablierten Parteien. Scharen verunsicherter, politikverdrossener und bisweilen auch verärgerter Bürger, die sich von den etablierten Parteien nicht mehr ernst genommen fühlen, stehen bereit, um ihre Anregungen und ihr Wissen ins kommunale Gedächtnis der Partei einzubringen. Und mit jedem Klick und in jeder Sekunde werden es mehr. Sollte es den Piraten also gelingen, die Mechanismen zur Aufnahme, Filterung und Repräsentation ihrer Wählerwünsche so zu optimieren, dass sie dauerhaft in der Gunst des größten Teils ihrer Anhänger bleiben, werden sie auch Wirtschaft können. Nicht sofort. Aber bald. Und dann mit weitaus mehr Fachwissen und Facettenreichtum, als ihnen von vielen heute zugetraut wird.
[1] D. Kahnemann, „Als wären wir gespalten“, in: Der Spiegel 21, S. 108 ff. (21.5.12)
[2] ebendort, S. 110.
Autor: Christian Froh