Das ist eine Geschichte, ist eine Seite von Indien, für die ich einige Zeit gebraucht habe, sie in Worte zu fassen.
Solange Erinnerungen und Gefühle nur in meinem Kopf existieren, ist es einfach, diese zu verdrängen. In dem Moment jedoch, in welchem ich bereit bin diese „aufschreibe“, beginne ich zu verstehen, zeige mich, mit all meinen Fassetten und bin bereit zu verändern.
Wenn ich eines für mich in den letzten Jahren gelernt habe, dann ist es, dass es nicht funktioniert, seine Gefühle zu unterdrücken. Vielmehr ist es die bewusste Annahme dieser, die es mir ermöglicht, Zustände zu heilen.
Indien, dass ist ein Land mit 1000 Gesichtern
Ein Land, so vielfältig wie die Farben seiner Felder oder die Muster der eleganten Saris. Indien, das sind lachende Kinder und wunderschöne Frauen, das sind Menschen, so herzlich und gastfreundlich wie ich sie bisher kaum in einem Land erleben durfte.
Aber Indien, das ist auch Armut, das ist der tägliche Kampf ums Leben und Überleben. Indien, das sind Straßenkinder, die mit dem Sammeln von Müll versuchen ein paar Pfennig zu verdienen. Indien, das ist Chaos und das ist Unterdrückung. Denn noch immer wird dieses Land, in vielen Teilen, von seinem Glauben und Kastenwesen bestimmt. Vor allem die tiefe Tradition der Kastenzugehörigkeit, bringt oft Unterdrückung der unteren Schichten und Kastenlosen mit sich.
Ohne Geld und Ansehen, bist du hier nicht viel wert. Und diese Wertlosigkeit bekommen viele Menschen jeden Tag zu spüren. Sei es durch Blicke, durch Worte oder durch herablassende Taten ihrer Mitmenschen. Ein Mensch, der jeden Tag aufs Neue seine Wertlosigkeit zu spüren bekommt, hat eine Große Bürde zu stemmen. Und so ist genau diese Unterdrückung für mich ein wichtiges Puzzleteil. Ein Puzzleteil zu verstehen warum die folgende Situation vorgefallen ist.
Vor wenigen Wochen hat sich meine Schwester die Hand gebrochen. Sie hat sich die Hand gebrochen, bei dem (erfolgreichen) Versuch vor einem Inder zu fliehen. Einem Inder, der sie kurz davor versucht hat in die Enge zu treiben. In die Enge zu treiben, um sie dann, mit großer Wahrscheinlichkeit, sexuell zu missbrauchen. Alleine diese Zeilen lösen eine Flut an Gefühlen in mir aus.
Sexueller Missbrauch, das ist ein Thema, was nicht nur in Indien noch viel zu oft ein Tabu ist. Es ist ein Thema, welches immer noch in vielen Teilen dieser Welt tot geschwiegen wird und welches „Frau“ am liebsten verheimlichen würde. Aber es ist eben auch ein Thema, was zum täglichen Leben gehört – und das sicher nicht nur in Indien.
In diesem Fall ist meine Schwester, sind wir beide, mit einem großen Schrecken und ja, einer gebrochenen Hand, davon gekommen.
Meine Schwester hat es geschafft, die Ruhe und einen glasklaren Verstand zu bewahren. Der Inder hat nicht damit gerechnet, dass sie versuchen würde zu fliehen und wurde von ihrem Handeln und ihrem lauten Schreien überrascht. Ein Schrei, der unter die Haut ging und bei dem ich in der selben Sekunde wusste, woher er kam. Ich konnte rechtzeitig zu ihr rennen und wir schafften es zu fliehen. Und so war eine gebrochene Hand und eine zerrissene Tunika am Ende das Einzige was sichtbar zurück geblieben ist. Gemeinsam mit einer Flut an Gefühlen im Inneren. Gefühle wie Angst, Misstrauen, Trauer und Wut. Wut auf einen Mann, der sich etwas nehmen wollte, was ihm nicht gehört.
Über die Details der Situation will ich bewusst nicht schreiben. Ich glaube es ist sowieso irrrelevant. Es ist egal, wie solche Dinge passieren. Wichtig ist vielmehr, dass es passiert ist, und dass es nun als ein Teil von ihr, von uns, angenommen wird.
Ich wurde im Nachhinein oft gefragt, warum wir diese Reise nicht abgebrochen hätten. Komischerweise habe ich mir diese Frage nie gestellt. Ich wollte dieser Situation und diesem Mann nicht die Macht geben, uns all die wunderschönen Erfahrungen in diesem Land zu zerstören.
Und so haben wir uns vielmehr Zeit in diesem Land genommen. Zeit und Ruhe das Geschehene sacken zu lassen, Zeit all die Gefühle und Gedanken, die hoch kamen, anzunehmen und Zeit wieder in unsere Mitte zu finden. Aber was noch viel wichtiger war, wir haben es nicht verschwiegen. Haben bewusst immer und immer wieder darüber geredet.
Mittlerweile sind wir zurück in Deutschland. Nach einer unbeschreiblichen, intensiven Reise. Und heute, mit etwas Abstand, kann ich sogar verstehen, warum ein Mensch in der Lage ist, so etwas zu tun. Ein Mensch, der täglich aufs neue Unterdrückung, Verzweiflung und Trauer in seinem Leben erfährt. Ein Mensch, der mit seiner Tat einen verzweifelten Versuch unternommen hat, sich ein bisschen Macht zurück zu holen…
Es wäre nicht richtig für mich, diese Seite meiner Reise auszulassen. Denn sie gehört nun auch zu mir. Gehört zu mir, wie all die schönen Erlebnisse und Erfahrungen. Es ist eine Befreiung, sich mir allem zu zeigen was ist und einen ausmacht. Es ist das wohl größte Geschenke, das wir uns selber machen können.
Und so wünsche ich jedem genau das: Den Mut, sich zu zeigen!. Den Mut anzunehmen, was ist und die Stärke, zu Verbreiten! Denn es kommt am Ende sowieso alles so, wie es kommen soll…
Daniela Wennmacher
www.prinzessinboots.com